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taz, die tageszeitung
December 22, 1998
SECTION: Pg. 3
LENGTH: 932 words
HEADLINE: Vergebliches Warten auf die
"fuenfte Modernisierung"
BYLINE: Sven Hansen
HIGHLIGHT:
Die Prozesse gegen Parteigruender sollen den juengsten Aufschwung der
chinesischen Demokratiebewegung beenden. Zerstrittene Dissidenten im Exil
bemuehen sich um Einigung
BODY:
"Mit der Demokratischen Partei wurde zum ersten Mal in der Geschichte der
Volksrepublik offen eine neue politische Partei gegruendet", sagt Frank Lu Siqing:
"Die Partei ist schnell gewachsen und hat in den vergangenen fuenf Monaten
eintausend Mitglieder in 23 Ortsgruppen organisiert", so der Leiter des Hongkonger
"Informationszentrums fuer Menschenrechte und Demokratiebewegung in China", der die meisten weltweit verbreiteten Nachrichten ueber chinesische
Dissidenten verbreitet. Anderen Quellen zufolge hat die Dissidentenpartei nur
etwa zweihundert Mitglieder.
Die Demokratische Partei ist nicht zentral organisiert, sondern besteht
erstmals aus einem landesweiten Verbund von Gruppen, meint Xiao Qiang von der
New Yorker Menschenrechtsorganisation
"Human Rights in China". Die Demokratiebewegung setze heute
staerker auf einen graduellen Wandel und sei Dank moderner
Kommunikationstechnologie besser vernetzt.
"Wir koennen jetzt ein typisches Muster der vergangenen zwanzig Jahre
beobachten. Die Gesellschaft verlangt Wandel, den die Behoerden verweigern", so Xiao. Entspannung gebe
es immer dann, wenn Chinas Fuehrer versuchten, ihre Beziehungen mit dem Westen
auszubauen und daran interessiert seien, den Eindruck der Liberalisierung zu
erwecken. Anschliessend schlage die Repression wieder zu.
Zwanzig Jahre nach Beginn der Reform- und Oeffnungspolitik Deng Xiaopings und
seinen
"vier Modernisierungen" (Landwirtschaft, Industrie, Wissenschaft, Militaer) verweigern Chinas
Kommunisten weiter die von Wei Jingsheng schon damals als
"fuenfte Modernisierung" geforderte Demokratie. Dabei sah
es dieses Jahr so aus, als stehe ein neuer
"Pekinger Fruehling" bevor. Noch nie seit der gewaltsamen Niederschlagung der Demokratiebewegung im
Juni 1989 war die intellektuelle Toleranz in China so gross wie in diesem Jahr.
Der Pekinger Professor Sheng Dewen schlug bereits
"Sonderpolitikzonen" vor, in denen nach dem Modell von Dengs Sonderwirtschaftszonen statt mit
Kapitalismus mit Demokratie experimentiert werden sollte. Die voruebergehend
weichere Haltung der Staats- und Parteifuehrung liess die
Aktivisten mutiger werden. Die Dissidenten nutzten den Schutz der Staatsbesuche
von Bill Clinton und Tony Blair und wurden dabei durch die Zurueckhaltung der
Behoerden ermuntert. Diese beschraenkten sich bis November meist auf
kurzzeitige Verhoere. Die
Parteigruender draengten bewusst auf eine Legalisierung und beriefen sich auf
den von China nach langer Ankuendigung im Oktober unterzeichneten UN-Pakt ueber
buergerliche und politische Rechte.
"Organisatorisch und programmatisch hat die innerchinesische Oppositionsbewegung
zweifellos Fortschritte
gemacht", meint Sebastian Heilman vom Institut fuer Asienkunde in Hamburg.
"Personell stuetzt sich die Opposition auf einige hundert ,professionelle
Dissidenten und eine unbekannte, offenkundig aber wachsende Zahl von
Sympathisanten in Medien und Staatsorganen." Die Verbindungen
zu Arbeitern und Bauern, die unter den sozialen Folgen der Reformpolitik
besonders zu leiden haben, seien aber weiterhin nur schwach ausgepraegt.
Doch abgesehen von der Forderung nach Demokratie und Reformen ist ein klares
Programm bisher
nicht zu erkennen. Die Bewegung hat wenig zu bieten, wenn zum Beispiel nach
Konzepten zur Reform der Staatsbetriebe gefragt wird. Die Bekaempfung der
Korruption steht hoch im Kurs, aber Fragen sozialer Gerechtigkeit sind fuer die
meisten so nebensaechlich wie ihre Demokratievorstellungen elitaer.
Die Gruendung der Demokratischen Partei ist von Dissidenten im US-Exil
unterstuetzt worden - sie finanzierten Computer und Faxgeraete und halfen bei
der Koordination der Bewegung.
"Wir haben begonnen,
die Demokratiebewegung als politische Oppositionsbewegung zu bezeichnen, weil
wir jetzt auf kollektiver und nicht mehr aus individueller Grundlage handeln", so
Shengde Lian in Washington. Er ist Sprecher der im Juni von dreissig Organisationen
gegruendeten
"Bewegung
fuer ein freies China", die auch die neue Partei in den USA vertritt.
Die Exilanten hatten in der Vergangenheit vor allem durch permanente
Fraktionskaempfe, fragwuerdiges Finanzgebaren und undemokratische Fuehrer fuer
Negativschlagzeilen gesorgt. 1993 scheiterte die
Vereinigung der beiden groessten Exilorganisationen.
Im Juni und Oktober dieses Jahres wurde erneut zur
"Einigungskonferenz" in die Vereinigten Staaten geladen. Im Internet wurde dafuer eigens eine
Anleitung zur Durchfuehrung einer demokratischen Versammlung veroeffentlicht.
"Selbst die
Dissidenten sind vom kommunistischen System beeinflusst", so
Shengde.
"Wir muessen erst lernen zusammenzuarbeiten."
Weil auch die Einigungskonferenz scheiterte, wurde im November in Toronto ein
neuer Versuch gestartet. Wei Jingsheng, Chinas prominentester Dissident,
avancierte dort zum
Sprecher der Demokratiebewegung im Exil. Ob damit die Einigung und das Ende
selbstherrlicher Fuehrer erzielt wurde? Professor Andrew Nathan, Weis Mentor an
der New Yorker Columbia Universitaet, bezweifelt, dass Wei die Dissidenten
zusammenfuehren kann. Auch
die Erklaerung der Konferenz klingt eher wie eine Warnung:
"Wei soll sich mit anderen Mitgliedern der Demokratiebewegung absprechen." Unbestaetigen Berichten zufolge soll Wei urspruenglich auf einer lebenslangen
Fuehrungsrolle bestanden haben.
Wei, der die Parteigruendung in
China fuer verfrueht haelt und mit dem gestern verurteilten Xu Wenli seit
Jahren Differenzen hegt, hat den Rollenwechsel vom Maertyrer und Einzelkaempfer
zum Exilpolitiker an der Spitze einer Bewegung noch nicht geschafft.
Sven Hansen
LANGUAGE: GERMAN; DEUTSCH
LOAD-DATE: December 21, 1998
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